von Kajo Breuer
Als Mitte vergangenen Jahres die französische Nationalversammlung eine „Energiewende“ verabschiedete, vermuteten nicht wenige Beobachterinnen und Beobachter, es sei eine Art symbolischer Akt, um beim Klimagipfel in Paris mit ambitionierten Zielen zu glänzen. Inzwischen zeigt sich verstärkt, dass die französische Energiewende nicht nur aus ökologischen Erwägungen angestrebt wurde, sondern vor allem aufgrund der krisenhaften Entwicklung der Nuklearindustrie.
Lange Zeit galt die Nuklearenergie in Frankreich als geradezu unantastbar. Sie wurde als Garant für staatliche Souveränität und günstige Strompreise angesehen. Mit der militärischen Nutzung wurde das Erbe der „Grande Nation“ innerhalb des NATO-Bündnisses gesichert, die billigen Elektrizität sorgte für die Zustimmung der Bevölkerung. Im Jahr 2014 zahlte in Frankreich ein mittlerer Haushalt 17,5 Cent je Kilowattstunde (im Vergleich: in Deutschland waren es 29,5 Cent). Möglich wurde das, weil die 58 Atomreaktoren des Landes fast sämtlich abgeschrieben sind und Strompreiserhöhungen von den Regierungen stets abgeblockt wurden. Ab 2030 werden Investitionen für den Bau neuer Reaktoren erforderlich sein, immerhin sind die französischen Atomkraftwerke durchschnittlich seit 30 Jahren in Betrieb. 55 Reaktoren wurden zwischen 1970 und 1984 gebaut und weisen nach Angaben der französischen Nuklearbehörde nun „systemische Defekte“ auf.
Konfrontiert mit diesen Herausforderungen zeigt sich der staatliche Kraftwerkskonstrukteur Areva völlig überfordert. Jüngst fasste die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ den Zustand folgendermaßen zusammen: das Unternehmen sei „mit seinem ganzen Geschäftsmodell gescheitert“. Wie kein anderer Konzern auf der Welt habe Areva die gesamte Bandbreite der Wertschöpfung besetzt, von der Uranförderung in eigenen Minen und der Anreicherung über den Reaktorbau bis zur Aufbereitung abgebrannter Brennstäbe in La Hague. Diese Unternehmenspolitik, gedeckt von den staatlichen Verwaltungsräten, sei kläglich misslungen. Ergebnis: Die Steuerzahlerinnen und -zahler müssen bluten. Rund 5 Milliarden Euro muss der französische Staat zum Ausgleich der gröbsten finanziellen Lücken in Avera hineinstecken. Die staatliche Electricité de France (EdF) soll nun den Part des Reaktorbaus übernehmen. Aber die EdF selbst ist Nöten: Sie ist hochverschuldet und hat seit der Marktöffnung ein Viertel ihrer Kunden verloren. Vor annähernd zehn Jahren noch das zweitteuerste Unternehmen Europas, ist sie heute ein Energieriese auf tönernen Füßen.
Diese missliche Situation der Atomenergie ist in letzter Zeit zunehmend ins Bewusstsein der französischen Gesellschaft gedrungen. Sie fördert die Bereitschaft, sich mit Alternativen auseinanderzusetzen. Damit erhöhen sich die Chancen einer ökologisch geprägten Energiepolitik. Fortschritte sind in jüngster Zeit bereits zu verzeichnen. Im vergangenen Jahr stieg nach Angaben des Übertragungsnetzbetreibers RTE die Ökostrom-Produktion aus Solar- und Windenergie um 25 Prozent, während im gleichen Zeitraum ein Drittel der französischen Kohlekraftwerke geschlossen wurde. Ende 2015 waren in Frankreich Photovoltaik-Anlagen mit einer Gesamtleistung von 6,2 Gigawatt installiert. Der Photovoltaik-Zubau betrug in Frankreich im vergangenen Jahr 895 Megawatt, die Solarstrom-Produktion stieg um ein Viertel auf 7,4 Terrawattstunden. Zum Vergleich: Im Vorjahr waren es 5,9 Terrawattstunden. Insgesamt deckten erneuerbare Energien etwa ein Drittel des Energieverbrauchs in Frankreich.
In welche Richtung und mit welchem Tempo sich die Energiewende in Frankreich entwickeln wird, ist derzeit ungewiss. Die einen denken dabei an Lenins Schrift „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritt zurück“, die anderen an die Echternacher Springprozession „Zwei Schritt vorwärts, ein Schritt zurück“. Ähnliches gilt für Deutschland. Vielleicht ist es hilfreich, die Klimaschutz- und Energiepolitik in beiden Ländern als eine Art Suchbewegung zu betrachten, die für gemeinsame grenzüberschreitende Initiativen im Saarland Chancen eröffnet.